„Die Verantwortung beginnt bei uns“


„Mir ist das ganz schnell ganz komisch vorgekommen.“ Offen und gleichzeitig schmerzlich bewegt beschreibt ein 62-jähriger Wiesbadener im Gemeindesaal von Heilig Kreuz Rheingau, wie ein Ordenspriester ihn und seinen Bruder mit 13 Jahren sexuell missbraucht hat. Von einem Tag auf den anderen wurde die freundliche Respektperson, die bei der Familie ein- und ausging, zum persönlichen Albtraum der beiden Söhne. Was folgte, waren Scham, jahrelanges Schweigen, Schulversagen und ein Suizidversuch. Erst mit 16 Jahren vertraute sich der Betroffene der Familie an. „Wieso habt ihr nichts gesagt?“, bekamen die Jugendlichen damals zu hören. „Ich hätte mir so gewünscht, dass einer gefragt hätte: Was ist passiert?“, so der Mann. Später gestand ihm seine Mutter, sie habe Angst vor der Wahrheit gehabt.
Im Interview mit Silke Arnold, Präventionsbeauftragte und Leitung der Fachstelle gegen Gewalt im Bistum Limburg, spricht der Betroffene über seine traumatisierenden Erfahrungen in der Jugend. Er betont vor den rund 30 Anwesenden, die die Veranstaltung „Sehen, verstehen und schützen – sexueller Missbrauch verändert Kirche vor Ort“ besuchen, dass das offene Gespräch über das Geschehene ihm Entlastung gegeben habe und rät jedem Menschen, der sexuellen Missbrauch erlebt habe, sich an Beratungsstellen zu wenden.
„Was tun wir, dass so etwas nicht wieder passiert?“
Erstmals hatten die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexueller Gewalt im Bistum Limburg (UKO), die Pfarrei Heilig Kreuz Rheingau und die Fachstelle gegen Gewalt gemeinsam zu einer Aufarbeitungsveranstaltung in eine Pfarrei eingeladen – weitere sollen folgen. Sexueller Missbrauch in der Kirche und der Umgang mit den Betroffenen hat nicht nur individuelles Leid verursacht, sondern auch zu einer großen Verunsicherung in den Pfarreien und kirchlichen Institutionen geführt. Auch in den Gemeinden im Rheingau hat Missbrauch stattgefunden und viele fragen sich „Wie konnte das geschehen?“ und „Was tun wir, dass so etwas nicht wieder passiert?“. Diese Fragen standen im Mittelpunkt des Abends, den Dagmar Gerhards von der Fachstelle gegen Gewalt mit viel Einfühlungsgefühl moderierte.
Die Frankfurter Professorin Milena Noll gab zunächst eine Begriffsbestimmung. Sexueller Missbrauch könne überall passieren, betonte Noll, die Mitglied der UKO ist. Täterinnen und Täter blieben oft unerkannt, da die Kinder oft schwiegen. Deshalb brauche es aufmerksame Erwachsene. „Hinschauen schützt die Kinder, Wegschauen die Täter“, machte Noll deutlich, die als Formen sexuellen Missbrauchs, körperliche Gewalt, nicht-körperliche (zum Beispiel digitale) Gewalt und Grenzverletzungen aufzählte.
Sexueller Missbrauch war ein Tabuthema
Nach einer Pause gingen Sandra Gudehus, Interventionsbeauftragte und Leitung der Fachstelle gegen Gewalt im Bistum Limburg, und Gregor Noll, Sozialpädagoge und Familientherapeut sowie Mitglied der UKO und des gemeinsamen Betroffenenbeirats der Bistümer Fulda und Limburg, auf konkrete Vorfälle im Rheingau ein. Sexueller Missbrauch sei auch vor Ort „bittere Realität“ für Jungen und Mädchen gewesen, insbesondere in den 60er-Jahren, so Gudehus. Damals sei sexueller Missbrauch ein Tabuthema gewesen. Vieles sei vertuscht worden, indem die Kleriker einfach versetzt wurden. Ausnahmen seien in den 60ern etwa die einjährige Haftstrafe für einen Kleriker im Rheingau gewesen ebenso die fünfjährige Haftstrafe für einen Krankenhausseelsorger.
Ein weiterer Priester, über den erst im Jahr 2010 erste Meldungen im Bistum ankamen, habe als Jugendpfarrer in den 60ern bis in die 80er Schutzbefohlene missbraucht, sagte Gregor Noll, der weitere Betroffene aufforderte, sich zu melden. „Wir möchten alle ermutigen hinzuschauen“, so auch Gudehus.
Im Anschluss ging Milena Noll auf Täterstrategien und sinnvolle Maßnahmen zum Schutz von Kindern ein. Missbrauchstäter gehen stets geplant vor und bauen zunächst Vertrauen und Nähe auf, um dann mit Drohungen und Schuldzuweisungen das Schweigen der Opfer zu erzwingen. Orte des Geschehens seien mittlerweile auch Online-Räume. Aufgabe der Erwachsenen sei es, bei Kindern wichtige Signale zu erkennen und gleich nachzufragen. Ein Rückzug ins Schweigen, eine sexualisierte Sprache, Aggressionen, Schulprobleme, Schlaf- oder Essstörungen sowie Selbstverletzungen können dabei wichtige Hinweise sein. „Ein Kind braucht einen Menschen, der nachfragt, der nicht wegsieht“, so Noll und fügte hinzu: „Die Verantwortung beginnt bei uns.“
Kirche verändert sich. Kirche lernt.
Die Pfarrei Heilig Kreuz Rheingau hat in den letzten Jahren vielfältige Präventionsmaßnahmen eingeführt, um Kinder, Jugendliche sowie schutz- und hilfebedürftige Erwachsene vor sexueller Gewalt zu schützen und betroffene Personen zu unterstützen. Zum Abschluss der Aufarbeitungsveranstaltung stellte Pfarrer Marcus Fischer vor, wie sich die Kirche vor Ort verändert hat. „Kirche beging Verbrechen. Kirche verändert sich. Kirche lernt“, sagte der Pfarrer, der sowohl Zustimmung als auch Ablehnung für die konsequente Umsetzung der Prävention in der Pfarrei erfährt.
In einem Flyer informiert die Pfarrei seit vielen Jahren über ihre Präventionsmaßnahmen. In jedem Tauf- und Ehevorbereitungsgespräch erläutert Fischer die präventive Haltung anhand des Flyers. Für Kinder gibt es einen eigenen Flyer in kindgerechter Sprache. Präventionsbeauftragte in der Pfarrei sind Gemeindereferentin Julia Sperber-Hartmann und Pfarrer Konrad Perabo. Seien die Selbstverpflichtungserklärung und das Einfordern eines polizeilichen Führungszeugnisses zu Beginn noch schwer zu vermitteln gewesen, gehöre es mittlerweile selbstverständlich dazu – auch die Teilnahme an den Präventionsschulungen, so der Pfarrer, dem es auch ein Anliegen ist, dass immer am zweiten Septemberwochenende für die Missbrauchsopfer geläutet wird.
„Heilung ist möglich“, sagt der Betroffene am Ende eines emotionalen und informativen Abends. „Es ist ein langer Weg, aber möglich.“
KONTAKT
Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexueller Gewalt im Bistum Limburg (UKO)
0171 69 59 161
Pfarrei Heilig Kreuz Rheingau
info@ heilig-kreuz-rheingau .de
06722 750 740
Fachstelle gegen Gewalt des Bistums Limburg
gegen-missbrauch.bistumlimburg.de
fachstelle-gegengewalt@ bistumlimburg .de
06431 295-154