„Wir dachten, dass es nicht lange dauert“


Yuliia führte mit ihrem Mann und ihrer sieben Jahre alten Tochter ein erfülltes Leben in Kiew. Als Abteilungsleiterin einer Klinik hatte sie Erfolg im Beruf. Sie reiste weltweit zu Kongressen und Veranstaltungen. Zwei Tage vor Beginn des Ukrainekriegs besuchte sie noch eine Ballettaufführung in der Nationaloper. Doch da hatte sie bereits ein ungutes Gefühl. Vormittags bat sie ihren Mann: „Geh auf den Markt und kauf Vorräte!“
Am Morgen des 24. Februar 2022 hörte Yuliia, die ihren Nachnamen nicht öffentlich machen möchte, um 4.20 Uhr die ersten Explosionen. Sie sah Flugzeuge am Himmel, hörte die Sirenen, die Straße war leergefegt. „Ich konnte mir das nicht vorstellen, dass dieser Krieg möglich wäre“, sagt sie. Die Mutter ist aus Russland, der ukrainische Onkel lebt in Moskau. Es gab so viele Verbindungen und Kontakte.

Ein Elternteil muss überleben
Um 5.30 Uhr rief eine Freundin an und sagte: „Der Krieg hat begonnen.“ Sie packe und fahre weg. Während Yuliia in der Ferne die Explosionen hörte, habe sie sich auf allen möglichen Wegen über die aktuellen Neuigkeiten informiert. Gleichzeitig habe sie überlegt, wo im Haus sie sich verstecken könne. Die Ukrainerin empfand große Unsicherheit und eine „mentale Taubheit“. Freunde und Patienten aus dem Ausland von Kairo bis Los Angeles schickten Hilfsangebote. In all dem Chaos musste das Paar entscheiden, wie es weitergeht – vor allem für die Tochter, die nicht im Krieg aufwachsen sollte. Das Kind war zu der Zeit bei der Oma in Chmelnyzkyj in Ferien. „Wir waren uns einig, dass ein Elternteil überleben muss, und mein Ehemann hat gesagt: Du gehst!“
Mit einem Rucksack gefüllt mit ein paar Anziehsachen und einer Tasche mit Dokumenten, Geld, Papieren und Laptop verließ Yuliia am 25. Februar 2022 ihr altes Leben und ging zum überfüllten Bahnhof. In die Züge durften nur Frauen, Kinder und Ausländer einsteigen. Der erste Zug fuhr ohne sie ab, in den zweiten konnte sie sich hineinquetschen. Die Fahrt nach Chmelnyzkyj dauerte neun statt vier Stunden. Es war unglaublich eng. Und dennoch: „So einen Zusammenhalt der Menschen habe ich nie mehr erlebt. Alle waren gleich betroffen“, beschreibt sie die damalige Situation.
Während der Angriffe weitergeschlafen
Während der Zeit in Chmelnyzkyj machte Yuliia einen Erste-Hilfe-Kurs. Ein ehemaliger Patient aus Canada schickte First-Aid-Kits. „Wir hatten Angst, aber wir dachten, dass es nicht lange dauert.“ Bei den Angriffen blieben die Frauen oft im Flur, wegen der Kälte und fehlender Fenster mieden sie den Keller in dem Häuserblock. In der Nacht versuchten sie einfach weiterzuschlafen. Als eine Bekannte nach Deutschland wollte, schlossen sie sich an. Drei Familien, insgesamt neun Personen darunter Yuliia mit ihrer 70-jährigen Mutter und ihrer Tochter, machten sich in zwei Autos am 7. März 2022 auf den Weg. „Wir haben viel geweint, aber auch so viel Gutes erfahren“, sagt sie. Die ukrainischen Militärposten steckten den Kindern Süßigkeiten zu, am Grenzübergang nach Polen wurden sie von Ehrenamtlichen empfangen, die sie mit allem Nötigen versorgten. In Breslau nahm sie eine Gastfamilie für zwei Tage auf.
Nach einer Übernachtung in Bad Nauheim kam die Gruppe am 10. März in Wiesbaden an und konnte in Dotzheim ein Haus beziehen. „Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Wir wussten nichts“, sagt sie rückblickend. „Unsere Vermieter waren fantastisch.“ Der Kühlschrank war voll. Der Vater des Vermieters, ein pensionierter Bäcker, habe für alle ein ukrainisches Gericht gekocht. Ärzte aus der Nachbarschaft schauten vorbei und luden zur Behandlung in ihre Praxis ein. Fünf Familien wohnten auf 90 Quadratmetern und Yuliia konnte als einzige Deutsch.
Die Kinder konnten am nächsten Tag zur Schule gehen
Dann gab es viel zu regeln. Am nächsten Tag ging es zur Anmeldung ins Bürgerbüro, später dann aufs Sozialamt. Dort gab es viele Dolmetscher. Es wurde auch Englisch gesprochen. Für die erkrankte Tochter bekam Yuliia gleich Versicherungspapiere mit. Als nächstes musste sie zur Ausländerbehörde. Als sie von der deutschen Schulpflicht hörten, sind sie mit den Kindern am nächsten Tag in die nächstgelegene Grundschule gegangen. „Das war die einfachste Sache“, sagt Yuliia. Die Kinder konnten gleich am nächsten Tag in den Unterricht kommen. Den Rest könne man danach klären, versprach die Schulleiterin damals. Mittlerweile nimmt Yuliias Tochter zusätzlich am Online-Unterricht der Ukraine teil. Immer am Ende eines Schuljahres macht sie einen Test, so dass ihre Schulzeit parallel in der Ukraine anerkannt wird.
„Die Leute haben uns alles gebracht“
Daneben erfuhren Yuliia und ihre Mitbewohner eine Welle der Hilfsbereitschaft von Privatpersonen. Die Ukrainerin trat in Social Media mehreren Wiesbadener Gruppen bei und erhielt darüber unglaublich viel Unterstützung von Wiesbadenern – neben Deutschen boten unter anderem Spanier, Rumänen und Polen ihre Hilfe an und brachten Spenden. „Die Leute haben uns alles gebracht: Schulranzen, Medikamente, Lebensmittel. Sogar einen Kühlschrank. Das war total schön“, erinnert sich die Ukrainerin, die über diese Kontakte schließlich auch eine Wohnung für sich, ihre Mutter und Tochter fand.
Inzwischen unterrichtet Yuliia eine Integrationsklasse einer Gesamtschule und zahlt Steuern. Ihre Tochter spielt Schach, macht Taekwondo und besucht die Zirkusschule. Im Kirchort St. Elisabeth Wiesbaden konnte sie an den Ferienspielen teilnehmen. Yuliia engagiert sich ehrenamtlich beim Anziehtreff des SkF. „Das ist eine fantastisch tolle Gemeinschaft“, schwärmt sie. Dort hilft sie beim Sortieren und Ausgeben der Kleidung. Auch bei der Kolpingspeisekammer in Biebrich hilft Yuliia. Jugendlichen hat sie in einem Firmkurs der Pfarrei St. Birgid ihre Fluchtgeschichte erzählt. Das Engagement ist ihr wichtig, weil sie selbst so viel Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit erfahren durfte.
Die Ukrainerin kennt viele Landsleute, die nicht mehr zurückwollen, die alles in den von Russland besetzten Gebieten verloren haben – geliebte Menschen und Eigentum. „Wiesbaden ist eine schöne Stadt“, schwärmt Yuliia. Doch für sie steht fest: „Ich plane nicht hier zu bleiben. Ich will zurück nach Hause!“ Sie möchte zurück zu ihrem Mann und in ihr altes Leben.
Hintergrund
Die hessische Landeshauptstadt pflegt seit Beginn des russischen Angriffskriegs enge Kontakte mit der Ukraine. In Wiesbaden leben laut Presseamt der Stadt 5198 Personen mit ukrainischer Staatsangehörigkeit (Stichtag: 31.12.2024).
Die jüngste Partnerstadt Wiesbadens liegt in der Ukraine. Am 11. September 2023 wurden die Partnerschaftsvereinbarungen zwischen Kamjanez-Podilskyj und Wiesbaden unterzeichnet.
Bei der Fußball-EM 2024 trainierte die ukrainische Nationalmannschaft im Wiesbadener Stadion. Das Team selbst war in Taunusstein-Neuhof untergebracht.
Mitte Dezember hat das Nato-Ukraine-Kommando in Wiesbaden seine Arbeit aufgenommen. Die Einheit soll die Waffenlieferungen an die Ukraine koordinieren und ukrainische Soldaten ausbilden.